Sheila nickte zu einem der Gebäude hinüber. »Wie wärs damit?« Grinsend knuffte sie mich in die Seite.
Ich betrachtete die Leuchtschrift über dem Eingang. Dollhouse stand dort in pinken Buchstaben.
In diesem Moment stieß mir jemand im Vorbeigehen den Ellbogen in den Rücken. Ich stolperte einen Schritt vor. Ärgerlich sah ich mich um. Aber der Kerl war zu betrunken, um mich auch nur zu bemerken.
Wo waren wir hier nur gelandet?
»Das ist wohl kaum das Richtige für uns«, sagte ich.
»Na und?!« Sheila lachte. »Das wird lustig!«
»Aha«, machte ich zweifelnd. Ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass es da drin besonders lustig zuging.
»Mir ist kalt«, jammerte Sheila, »und ich bin patschnass.«
Nass war ich auch. Dicke Regentropfen prasselten auf meine Stirn. Mein Mantel hatte sich vollgesogen wie ein Schwamm. Von meinen Füßen ganz zu Schweigen.
Hätte ich gewusst, dass ich diesen Abend so verbringen würde, hätte ich mich anders angezogen. Ich trug offene Pomps mit zehn Zentimetern Absatz und ein hauchdünnes, rotes Abendkleid. Mein Cashmere-Mantel war zwar sagenhaft weich und kuschelig, aber kein bisschen wasserdicht. Das war eindeutig nicht das richtige Outfit für … das hier.
Wir befanden uns in einer bunten, lauten Straße mitten im Amüsierviertel der Stadt. Zwar war ich noch nie in dieser Gegend gewesen, aber man las und hörte viel darüber in den Nachrichten.
Nichts Gutes, versteht sich.
Es war grell, es war eng und es war schmutzig. Auf dem Boden lagen durchgeweichte Papierfetzen, Scherben, Zigarettenstummel. Meine Zehenkuppen waren schon ganz schwarz.
Der Großteil der Besucher war männlich und total betrunken. Überall wurde gegrölt, geschrien, gestritten, geschubst. Zwischendrin versuchten ein paar Türsteher für Ordnung zu sorgen. Von der Polizei war weit und breit nichts zu sehen. Die kamen nur hierher, wenn sie unbedingt mussten. Sheila und ich wussten das. Und genau deswegen waren wir hier.
Aber wir wussten auch, dass dies keine Gegend war, in der sich zwei junge Frauen allein herumtreiben sollten. Vor allem nicht um diese Uhrzeit. Es war schon kurz nach 2 Uhr.
»Bitte!«, bettelte Sheila.
Mit ihren großen blauen Kulleraugen sah sie mich an. So bekam sie mich jedes Mal rum. Dabei hätte mir klar sein müssen, dass meine beste Freundin im betrunkenen Zustand keine gute Ratgeberin war.
Ich seufzte leicht.
Der Zutritt des Dollhouse war von einem roten Samtvorhang gegen neugierige Blicke abgeschirmt. Links und rechts der Tür standen bullige Typen.
»Meinst du, dass die uns überhaupt reinlassen?«, fragte ich. »Ich meine, wir sind nicht gerade deren Zielgruppe, schätze ich.«
»Ich mach das schon«, sagte Sheila und torkelte dann auf die beiden Typen zu.
Ich ging ihr hinterher. Vor allem weil ich wusste, dass sie nicht mehr so ganz zurechnungsfähig war. Natürlich hatte ich auch getrunken. Mehr als ich vertrug. Aber die Kälte, der frische Regen und der halbstündige Marsch quer durch die Stadt hatten mich wieder klarer im Kopf werden lassen.
»Hey ihr Süßen«, sprach Sheila die Typen an. Beide waren mindestens 100 Kilo schwer. Und als süß hätte ich sie nicht bezeichnet. Eher ein bisschen gruselig. Aber Sheila fragte weiter: »Na, ist da drinnen noch Platz für uns zwei?«
Die Türsteher musterten Sheila. Anscheinend gefiel ihnen, was sie da sahen.
»Für dich ist der Eintritt sogar frei, Schätzchen«, sagte einer der beiden und grinste widerlich.
Während Sheila schon reingehen wollte, fasste ich sie am Arm.
»Was ist das für ein … Club?«, wollte ich von den Typen wissen.
Die beiden wechselten Blicke. Dann lachten sie.
»Ein Club, in dem ihr sehr willkommen seid«, antwortete nun der andere und lachte. Beide Schneidezähne fehlten.
Ich erwiderte sein Lächeln nicht. Sheila zerrte an mir. Und ich hätte wirklich einiges für trockene Füße gegeben. Also gab ich nach.
»Danke«, hauchte ich und huschte hinter Sheila hinein.
Innen schlug mir schwüle Luft entgegen, die nach Schnaps und Zigaretten roch. Es wurde wärmer, das Licht schummriger. Durch einen schwarzen Gang gelangte man in den Hauptraum dieses … Etablissements.
Es handelte sich offenbar um einen Strip-Club. Und er war wirklich gigantisch.
Mindestens 500 Leute, nun Männer, genossen die Show. Auf einer Bühne weiter vorne räkelte sich eine spärlich bekleidete junge Frau vor einer Horde sabbernder Typen. Ein Podest weiter links wurde von einer blonden Schönheit dazu genutzt, ihren nackten Busen dem Publikum zu präsentieren.
Die Bedienungen, die auf ihren hochhackigen Schuhen herumliefen, waren ausschließlich weiblich und … nun ja, sehr attraktiv. Sie trugen enge, schwarze Kleidchen mit pinker Spitze am Saum. Und diese Kleidchen waren so kurz, dass sie diese Bezeichnung eigentlich gar nicht verdienten.
Grelle Scheinwerfer irrlichterten durch den dunklen Raum. Es lief basslastige, hämmernde Musik. Unterlegt mit sanften Frauenstimmen, die eher nach Bettgeflüster als nach Gesang klangen. Und sie war so laut, dass ich die Vibration im ganzen Körper spüren konnte.
Aus einer Ecke wandten sich uns irgendwelche schmierigen Typen zu.
Schnell kehrte ich mein Gesicht ab, zog Sheila hinter mir her und suchte uns eine ruhigere Stelle. Ich konnte mich nicht daran erinnern, jemals so viele besoffene, enthemmte Männer an einem Ort gesehen zu haben. Und wir waren mittendrin.
»Die Musik ist echt sweet«, schnurrte Sheila und begann sich im Takt zu wiegen.
Damit zog sie noch mehr Blicke auf sich. Anscheinend waren wir an diesem Ort die einzigen Frauen, die hier nicht ihrer Arbeit nachgingen.
»Kann sein. Aber wir sollten trotzdem gehen«, erwiderte ich und schaute mich verstohlen um. Von allen Seiten drehten sich Männer nach Sheila um.
Doch meine Freundin fand anscheinend, ich würde mich anstellen. Sie zwinkerte irgendeinem der Kerle zu.
»Ich will noch bleiben!«, sagte sie lachend und funkelte in die Menge hinein. »Ein paar von denen sind doch echt süß!«
Mir war nicht danach, das Angebot zu begutachten.
»Komm«, drängelte ich sie. »Die sind doch alle total zugedröhnt.«
»Und? Das bin ich auch!«, lachte Sheila und ließ ihre Hüfte noch eleganter kreisen. Dann zog sie sich auch noch langsam, ganz sachte, ihren Mantel von den Schultern.
Ich packte sie fest am Arm.
»Sheila!«, zischelte ich. »Die Typen denken noch, du bist eine Professionelle!«
»Entspann dich, Hanna!«, erwiderte Sheila. Dabei sah sie mich nicht einmal an. Stattdessen flirtete sie lieber mit irgendeinem von diesen liederlichen Kerlen.
Das hier war eine dumme Idee gewesen. Ich hatte mich überreden lassen. Aber ich war alt genug, um zu wissen, dass es so enden würde.
Sheila war wie ich. Sie suchte so sehr nach Spaß, nach Freiheit und all dem, dass sie manchmal die Grenzen vergaß. Das Problem war nur, dass sie um einiges mutiger war als ich. Eigentlich mochte ich das an ihr. Mit ihr wurde es nie langweilig. Aber diese Situation war mir einfach nicht geheuer.
Plötzlich lief mir ein Schauer über den Rücken.
Trotz der Hitze stellten sich mir die Härchen an den Armen auf.
Ich spürte, ganz deutlich, dass ich beobachtet wurde.
Vorsichtig drehte ich mich um.
Im dämmrigen Licht erkannte ich einen Mann. Etwa 30 Schritt entfernt. Er saß in einem abgetrennten, erhöhten Bereich, in dem Ledersofas standen. Von dort konnte man den ganzen Club überblicken.
Doch was auf der Bühne geschah, interessierte ihn nicht.
Stur sah er zu uns hinunter. Und es ließ ihn völlig kalt, dass ich das bemerkt hatte. Er fixierte uns …so als wären wir keine Menschen, sondern irgendwelche … Dinger.
Doch ich schaffte es nicht, mich abzuwenden. Sein Blick war so unnachgiebig, hart, dominant.
Keine Frage, dieser Mann war es nicht gewohnt, um irgendetwas bitten zu müssen.
Ganz steif stand ich da und musterte ihn.
Er war älter als ich. Etwa Mitte 20, vielleicht auch schon 30. Die Farbe seiner Augen konnte ich nicht erkennen, aber sie waren düster und geheimnisvoll.
Alles an ihm wirkte so unbeschreiblich männlich: seine tiefsitzenden, dichten Brauen, seine gerade, kantige Nase, die flachen Wangenknochen, der breite, markante Kiefer. Sein Hals war tätowiert. Eine tiefe Narbe zog sich quer über die Stirn, die rechte Schläfe hinab und verschwand hinter dem Ohr.
Es passierten zwei verrückte Dinge mit mir. Zwei Dinge, die gar nicht zusammenpassten:
Mein Inneres krampfte sich auf angenehme Weise zusammen.
Und mein inneres Alarm-System sprang an.
Dieser Mann war gefährlich, das spürte ich. Mit jeder Faser meines Körpers konnte ich wahrnehmen, dass ich ihm nicht zu nahe kommen durfte.
Aber ich schaffte es doch nicht, ihn einfach zu ignorieren. Er war einfach so präsent, so … intensiv.
Mein Blick glitt tiefer. Seine Lippen waren überraschend sinnlich und voll. Der Dreitagebart auf seinen schmalen Wangen glänzte so rabenschwarz wie sein kurzes Haar.
Plötzlich hob er die Hand. Nur knapp.
Ich schreckte so heftig zusammen, dass etwas in meinem Nacken laut knackte.
Doch dieses Handzeichen galt nicht uns.
Sofort kam eine der Animierdamen zu ihm gelaufen. Sie sah aus wie eine billige Dolly Parton-Kopie. Ganz tief neigte sie sich zu ihm hinunter. Ihr großer Busen quoll über den Riesenausschnitt ihres … Kleidchens.
Er sagte etwas zu ihr. Aber dabei hörte er nicht damit auf, uns zu beobachten. Kurz darauf schaute auch die Frau zu uns hinunter. Sie begutachtete erst Sheila, dann mich und wandte sich ihm wieder zu.
Anscheinend redete sie kurz mit ihm. Schließlich nickte er und die Frau verabschiedete sich lächelnd. Während sie von der Empore hinabstieg, warf sie uns einen kritischen Seitenblick zu. So als hätten wir sie verärgert.
Mit schwingendem Po ging sie davon.
Nein, ich fühlte mich hier kein bisschen willkommen.
Mein Herz pochte fester.
Endlich wandte ich mich ab. Es war höchste Zeit, von hier zu verschwinden.
Doch gerade als ich Sheila endlich überzeugen wollte, tauchte eine Gruppe Männer vor uns auf. Sie hatten nur Augen für Sheila. So war es immer.
Meine beste Freundin war groß und blond und vollbusig. Ich war genau das Gegenteil.
Schon damals auf der Schule waren alle Jungs in sie verliebt gewesen. Nun waren die Jungs zu Männern geworden und die erhofften sich mehr als nur einen schüchternen Kuss hinter dem Schulgebäude.
»Was haben wir denn hier?«, raunzte einer der Typen und musterte Sheila von oben bis unten. Er schien sehr angetan. Sein rasierter Kopf glänzte feucht. »So was Hübsches hab ich ja noch nie gesehen.«
»Ich war ja auch noch nie hier«, erwiderte Sheila kichernd und posierte vor den Typen.
»Klar. Das hätte ich bemerkt.« Der Anführer der Truppe war bestimmt schon fast 40 und er sah aus, als würde er jeden Tag in solchen Clubs rumhängen. »Willst du ein bisschen tanzen, Mädchen?« Er begann mit der Hüfte zu stoßen. Es sah aus wie eine Trockenübung. Seine Freunde lachten.
Das reichte!
Ich lehnte mich vor.
»Wir wollen gleich gehen«, sagte ich entschieden.
»Sei doch nicht so eine Spaßbremse!«, widersprach Sheila.
»Genau!«, protestierte auch der Glatzkopf. »Mit dir hat keiner geredet.«
»Sie redet auch nur mit dir, weil sie nicht mehr weiß, wo oben und unten ist«, sagte ich frech und verschränkte demonstrativ die Arme.
Sheilas Bewunderer bedachte mich mit einem abfälligen Grinsen. Er kam mir so nahe, dass ich die Luft anhielt. Sein übler Atem schlug mir entgegen. »Warum gehst du nicht zur Bar und bestellst dir ein Glas Wasser, hm? Dann können wir hier unseren Spaß haben.«
Ich wollte gerade etwas erwidern, aber dann wich der Typ plötzlich zurück. Auch seine Freunde waren mit einem Schlag ganz ruhig. Keiner bewegte sich noch.
Es war, als hätte plötzlich die Zeit angehalten.
Sie alle fixierten einen Punkt, der sich irgendwo hinter mir befinden musste.
Zögernd sah ich mir über die Schulter.
Der Mann auf der Empore war aufgestanden. Er strich sein enges, weißes Hemd glatt. Dann kam er direkt auf uns zu.
Sein Gang strotzte nur so vor Selbstbewusstsein. Ich war außerstande mich abzuwenden. Es war, als hätte er mich gefangen. Aber vielleicht war es auch nur so, dass ich nicht wegsehen wollte.
Seinen Feind behielt man besser im Auge …
Nun ließ ich meinen Blick noch tiefer gleiten. Als ich seine Hände betrachtete, stockte ich. Sie waren groß und stark. Auch sie waren von Tätowierungen übersät.
Scheu begutachtete ich seine beeindruckende Gestalt. Er war groß, athletisch, muskulös. Unglaublich groß. Als er schließlich vor uns stehenblieb, musste ich den Kopf in den Nacken legen, um in sein Gesicht sehen zu können.
»Gibts ein Problem, Schneewittchen?«, sprach er mich an. Seine Stimme war ein dunkles Raunen. So durchdringend, dass es selbst die laute Musik mühelos übertönte. Er lächelte nicht. Nein, er fixierte mich bohrend. So als wollte er unbedingt herausfinden, was wir hier verloren hatten.
Wer zum Teufel war er? Warum sprach er ausgerechnet mich an?
War er ein Rausschmeißer oder ein Freund von diesen ekligen Typen?
Beim Wort ›Schneewittchen‹ zögerte ich. Ja, ich hatte dunkelbraunes Haar und ja, ich hatte helle, fast schneeweiße Haut. Langsam sah ich an mir hinab. Mein Mantel war einen Spalt weit geöffnet. Darunter blitzte mein tiefrotes Abendkleid hervor. Zögerlich zog ich den durchnässten Stoff enger um mich.
Plötzlich begann er zu lächeln. Es war ein raubtierhaftes Lächeln. So als könnte er mich mit einem Happs auffressen.
»Du siehst aus, als wärst du hier falsch«, sagte er mit einem warmen Unterton in der Stimme.
Ich wollte etwas sagen. Doch meine Stimme war belegt. Ich musste mich räuspern. Und daraufhin wurde sein Lächeln noch breiter.
»Wir wollten nur … aus dem Regen raus«, erwiderte ich zaghaft.
»Tja, das hast du ja schon mal geschafft«, sagte er und legte den Kopf schief.
Anscheinend amüsierte ich ihn. Ich konnte es ihm nicht verdenken. Es war so offensichtlich, dass ich hier nicht hingehörte.
Schließlich machte er »Mh« und nickte. So als hätte er sich damit abgefunden, dass ich nun mal hier war.
Dann streckte er den Arm aus.
Instinktiv wich ich zurück. Jede Faser meines Körpers war angespannt. Mein natürlicher Instinkt sagte mir, dass dieser Mann alles andere als harmlos war.
Nun lachte er leise. Es klang wie ein Knurren.
»Sind diese Herren dir zu nahe gekommen?«, fragte er und deutete genau auf den Glatzkopf. Dieser machte augenblicklich noch einen weiteren Schritt zurück und hob dann besänftigend die Hände.
Auch Sheila hatte sich umgedreht. Offensichtlich gefiel ihr, was sie sah. Sie musterte den Mann vor mir von oben bis unten. Dann biss sie sich auf die Unterlippe und sah sehnsüchtig zu ihm auf.
Keine Frage, er war genau ihr Typ. Aber wahrscheinlich traf das auf so ziemlich jede Frau zu.
»Noch nicht«, antwortete ich leise. Eigentlich war ich nicht so leicht einzuschüchtern. Aber er hatte so eine Wirkung auf mich. Ich wusste einfach, dass man diesen Mann besser nicht provozieren sollte.
»Ok.« Er nickte knapp. Dann taxierte er Sheilas Anhängerschaft. »Das sind anständige Mädchen«, erklärte er. »Benehmt euch.«
Die Kerle waren plötzlich ganz kleinlaut. Keine Ahnung, wer er war. Aber anscheinend war er in dieser … Szene kein Unbekannter. Ich befürchtete, mein Bruder und mein Vater würden das ein oder andere Detail über ihn berichten können.
Schließlich wandte er sich wieder an mich. »Was willst du trinken?«, fragte er.
So irritiert wie ich war, brauchte ich einen Moment, um ihm zu antworten. Ich konnte mich nicht daran erinnern, ihn irgendwie zu dieser Frage verleitet zu haben. Oder ging er einfach davon aus, dass jede Frau etwas mit ihm trinken wollte?
Als ich dann endlich meine Stimme wiedergefunden hatte und ein krächzendes »Äh, ich w...« rausbrachte, unterbrach Sheila mich von hinten.
»Prosecco, Baby!«, japste sie. Dann hatte sie sich auch schon seinen Arm geschnappt.
Etwas irritiert sah er auf sie hinunter. Aber er sagte nichts, sondern brachte uns zu einer der Theken.
»Für Prosecco seid ihr hier falsch???«, erklärte er.
Während ich an seiner Seite ging, hielt ich gehörigen Abstand. Aber die ganze Zeit über betrachtete ich ihn verstohlen. Dieser Mann war definitiv süß. Wobei süß vielleicht nicht ganz das richtige Wort war. Eher gefährlich attraktiv.
Ich musterte die Tätowierungen auf seinem breiten Hals. ???watch your back. Ready for you feels like home
Er winkte den Barkeeper heran. Und dieser kam sofort herbeigelaufen. Kurz darauf reichte er uns drei Gläser. In meinem befand sich eine hellbraune Flüssigkeit. Auf jeden Fall irgendetwas Hochprozentiges.
»Danke«, sagte ich leise.
Darauf erwiderte unser Gönner nichts. Stattdessen leerte er sein Glas in einem Zug.
Ich schnupperte. Schon vom Geruch wurde mir schwindelig. Vorsichtig nippte ich. Das Zeug brannte wie das Höllenfeuer.
Er neigte sich zu mir hinunter.
»Nicht dein Geschmack«, raunte er mir ins Ohr. Meine Nackenhärchen bekamen eine Gänsehaut. Seine Wange war so dicht an meiner, dass ich seine Körperwärme spüren konnte. Und dann stieg mir sein betörender Duft in die Nase. Ich sog den Geruch tief ein. Es war berauschend.
Ich schluckte schwer.
»Doch«, japste ich. Normalerweise war ich gesprächiger. Weniger einsilbig. Und sehr viel deutlicher. Aber ihm gegenüber getraute ich mich kaum, auch nur einen Ton von mir zu geben.
»Gut«, erwiderte er lächelnd. Er wich ein Stück zurück, schaute mir intensiv in die Augen und richtete sich schließlich wieder auf.
Langsam nahm ich einen weiteren Schluck. Dann noch einen etwas größeren. Meine Kehle war wie betäubt.
Sheila war da nicht so empfindlich. Sie kippte ihren Drink runter, knallte das leere Glas auf den Tresen und fächelte sich Luft zu.
Mir aber sah man an, dass ich so starkes Zeug nicht gewöhnt war. Ihn schien das zu belustigen.
»Wie heißt du?«, wollte er wissen.
Meinen echten Namen wollte ich ihm nicht sagen. Ich vertraute ihm kein bisschen. Ich hätte ihm alles zugetraut.
Zum Beispiel hätte ich diesen Drink nie angenommen, hätte ich beim Einschenken nicht genau nebenan gestanden. Vielleicht war er ja ein Typ, der sich Frauen mit K.O.-Tropfen gefügig machte. Allerdings hatte er solche Hilfsmittel vermutlich nicht nötig. Es gab fraglos zahllose Frauen, die absolut freiwillig für ihn die Beine breit gemacht hätten. Aber das änderte nichts daran, dass er mir Angst machte.
»Äh … Kate«, stieß ich hervor und blinzelte nervös.
»Ah«, machte er kehlig. Offenbar glaubte er mir nicht. Nun musterte er mich von oben bis unten. Und es schien ihm zu gefallen, was er da sah. Sehr zu gefallen. »Und was genau hast du dort draußen im Regen gemacht, Kate?«
»Wir waren … einfach unterwegs«, erklärte ich und blinzelte zu ihm hinauf. Ich spürte Sheilas bohrende Seitenblicke. Und ich wünschte mir sehnlichst, sie würde den Mund halten.
»Läufst du weg? Oder suchst du nach etwas?« Sein Blick verriet, dass er sich sicher war, dass es eines dieser beiden Dinge sein musste.
Zögernd schüttelte ich den Kopf. »Wir wollten wirklich einfach nur … Spaß haben«, antwortete ich. Dann lächelte ich harmlos. »Wie ist Ihr Name?«
»Mio.«
Ich nickte. Interessanter Name. Außergewöhnlich. So wie dieser Mann.
»Mio ist doch kein richtiger Name«, sagte Sheila von der Seite. Sie taumelte leicht, als er auf sie hinuntersah.
»Kann schon sein. Aber ich bin ein richtiger Mann«, antwortete er kühl, fast etwas bedrohlich. Schließlich wandte er sich wieder an mich. »Kommst du von hier?«
Mir blieb die Luft weg. Rasch schaute ich auf das Glas in meinen Händen hinunter. Er sollte meine Panik nicht bemerken. »Ähm«, stammelte ich, »ja. Das heißt, eigentlich nein. Ich … äh, besuche jemanden. Das heißt, wir beide. Wir studieren eigentlich. Mh, woanders …« So weit, so falsch …
Mios Blick war prüfend. »Auf jeden Fall seid ihr zufällig hierher geraten«, schloss er aus meinen Worten – und wohl auch aus meinem unsicheren Benehmen. Er nickte in den Raum hinein. »Das hier ist nicht gerade das beste Viertel der Stadt.«
Mit einem schwachen Lachen entgegnete ich: »Das haben wir schon bemerkt.«
Nun kniff er die Lider zusammen. »Manchmal verschwinden Frauen von hier«, erklärte er. Warnend fügte er hinzu: »Und manchmal tauchen sie nie wieder auf.«
Ich umklammerte mein Glas so fest, dass meine Fingerkuppen ganz taub wurden. »Verstehe«, flüsterte ich.
»Gut«, sagte Mio düster.
Doch Sheila war zu betrunken, um die tiefer liegenden Schwingungen wahrzunehmen. »Da Sie meine Mittänzer ja vergrault haben, könnten Sie ja mit mir tanzen«, schlug sie vor.
»Das willst du nicht. Ich bin ein wirklich mieser Tänzer«, erklärte er und schob seine Hände in die Hosentaschen.
»Kann ich mir gar nicht vorstellen«, flötete Sheila und musterte ihn begehrlich.
»Ich will gar nicht wissen, was du dir gerade vorstellst«, sagte Mio mit einem unverschämten Lächeln. Dann funkelte er mich vielsagend an. »Sie ist also deine Freundin.«
»Meine beste Freundin«, antwortete ich grinsend.
Sheila zog eine Schnute. Anscheinend fühlte sie sich ausgeschlossen. Schließlich deutete sie zur Tanzfläche. »Dann gehe ich eben allein.«
»Ich komm mit!«, rief ich ihr nach.
»Keine Sorge. Hier ist sie sicher«, versprach Mio mir, so als liege das in seiner Hand.
Nachdenklich runzelte ich die Brauen. »Sie scheinen sich hier ja ziemlich gut auszukennen«, murmelte ich.
Darauf wollte er offenbar nicht näher eingehen. »Es ist eher so, dass viele hier mich mittlerweile ganz gut kennen.« Mit einem verwegenen Lächeln nickte er mir zu. »Du hast gesagt, du studierst.«
»Oh, ich … äh«, stammelte ich. Irgendwie befürchtete ich, die Wahrheit würde ihm nicht gefallen. »Äh, Soziologie«, log ich.
»So.« Wieder musterte er mich so verdammt eingängig. »Ich hätte ja eher auf Medizin getippt. Oder Jura.«
Womit er auch viel richtiger gelegen hätte …
»Warum das?«, lachte ich heiser.
»Na ja«, raunte er in seine Betrachtung versunken, »du siehst brav aus. Wie Daddys kleines Mädchen. Und alle Väter wollen doch, dass aus ihren Kindern mal etwas Anständiges wird, oder?« Sein Unterton war voller Spott. Aber ich war mir nicht so sicher, ob das mir galt. Er schien sich eher über das Wort anständig zu amüsieren.
»Sie denken wohl, Sie wären ein guter Menschenkenner«, sagte ich zögernd.
»Ja.« Er nickte entschieden. Sein Blick war durchdringend wie ein Röntgenstrahl. »Und das bin ich ganz ohne Studium.«
Was genau er arbeitete, wollte ich eigentlich nicht wissen. Unwillkürlich glitt mein Blick zu seinen tätowierten Handknöcheln. Damit hätte er definitiv nicht in der Chefetage einer anständigen Firma sitzen können. Ganz egal, ob er studiert hatte oder nicht.
Mit einem schiefen Grinsen nickte er auf das noch immer halbvolle Glas in meinen Händen hinunter. »Du kannst mir einfach sagen, was du lieber hättest«, sagte er.
»Ich bin sowieso nicht so durstig«, erwiderte ich und zuckte dann die Achseln.
Die Wahrheit war, ich wusste nicht, ob das hier richtig war.
Sollte ich wirklich mit ihm hier stehen und mir Drinks spendieren lassen? Sollte ich überhaupt mit ihm reden? Klar, ich kannte ihn nicht. Aber einer Sache war ich mir absolut sicher: Er und ich kamen aus ganz anderen Welten.
Tatsache war, Mio war keiner dieser etwas schüchternen, strebsamen, gut erzogenen Jungs, mit denen ich normalerweise zu tun hatte. Sein Auftreten, sein Aussehen, seine ganze Art machten mir klar, dass er jemand war, der alles dafür tat, um zu bekommen, was er wollte. Und ich bezweifelte, dass er sich allein mit Reden durchzusetzen pflegte.
Keine Ahnung, was er sich hiervon versprach.
Dachte er etwa, ich würde mit ihm ins Bett steigen, nur weil er nett zu mir war? Das würde ich garantiert nicht. Aber so oder so wollte ich nicht in seiner Schuld stehen.
Mio nickte wieder. Lachfältchen umrahmten seine Augen. Aber es war kein echtes Lächeln. Es schien eher so, als lachte er über meine Antwort. So als wüsste er genau, was in mir vorging.
Plötzlich tauchte ein bulliger Typ in schwarzem Anzug hinter Mio auf. Offenbar ein Sicherheitsmann. Er blickte erst Mio, dann mich neugierig an.
Mio hatte ihm den Rücken zugedreht, aber an meinem Gesichtsausdruck war leicht zu erkennen, dass da etwas hinter ihm vor sich ging. Langsam drehte er sich um.
Wenn Mio nicht einmal in diesem Club ein gerne gesehener Gast war, dann wollte ich gar nicht wissen, was er alles auf dem Kerbholz hatte. Zu meiner Überraschung war der Sicherheitsmann aber nicht hier, um nach dem Rechten zu sehen.
»Boss«, sprach er Mio an und fixierte mich zweifelnd.
Mio verstand. Ich sollte anscheinend nicht erfahren, um was es ging.
»Entschuldige mich einen Moment«, fragte er mit einem charmanten Lächeln und ging dann zu dem Sicherheitsmann hinüber.
Die beiden redeten kurz. Dann hielt Mio inne. Ich konnte sehen, wie er die Kiefer aufeinander presste. Er wirkte angespannt. Knapp sah er sich nach mir um.
»Ich bin gleich wieder da«, ließ er mich wissen. Und er war sich offenbar absolut sicher, dass ich auf ihn warten würde.
»Ok«, hauchte ich.
Nachdenklich sah ich den beiden hinterher. Sie gingen zu einer Tür weiter hinten, auf der Staff only stand. Dahinter verschwanden sie.
Zu gerne hätte ich gewusst, was sie wohl zu bereden hatten. Aber dann überlegte ich, dass es wohl besser wäre, ich würde es nie erfahren.
Das war der richtige Moment, um wirklich endlich zu gehen.